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"Österreich verletzt fast alle Menschenrechtskonventionen"

  • Saturday, 15. August 2015 @ 09:32
Antirassismus Im Regelfall veröffentlichen wir hier ja keine Beiträge österreichischer Tages- oder Wochenzeitungen. Angesichts der Klarheit des Beitrags von Maria Sterkl und angesichts der ausführlichen Darlegung der Kritik von Amnesty International machen wir dieses Mal eine Ausnahme.

Kranke bleiben unversorgt, Frauen müssen sich vor Männern nackt ausziehen, Minderjährige leben ohne Betreuungsperson – AI-Generalsekretär Patzelt ist "unfassbar zornig" Wien/Traiskirchen – "Ich hätte so etwas in Österreich nicht für möglich gehalten", sagt "Amnesty International Österreich"-Generalsekretär Heinz Patzelt nach dem AI-Lokalaugenschein im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen vergangene Woche.

Kranke und Verletzte würden unversorgt bleiben, weil es viel zu wenige Ärzte vor Ort gebe. Frauen und Männer würden in den gemischten Duschen einer "unfreiwilligen Peepshow" ausgesetzt, weil man keine Duschvorhänge aufhänge. Menschen müssten oft ohne Essen auskommen, weil sie sich für ihre Registrierung stundenlang anstellen müssten und sich deswegen nicht in die – ebenfalls lange – Warteschlange für die zeitgleich stattfindende Essensausgabe einreihen könnten.

Allein in der Betreuungsstelle müssten 1.500 Asylsuchende im Freien schlafen, heißt es. Laut Innenministerium sind auch 449 unbegleitete Kinder und Jugendliche obdachlos.

"Das ist Barbarei"

Es gebe keinen ausreichenden Schutz für besonders hilfsbedürftige Gruppen wie Minderjährige ohne Eltern, Neugeborene, Schwangere und Kranke. "Österreich verletzt fast alle menschenrechtlichen Konventionen, die mir einfallen", sagte Patzelt. Was der Staat in Traiskirchen unternehme, komme einer erniedrigenden Behandlung gleich. "Es macht mich unfassbar zornig, was hier passiert", so der AI-Generalsekretär.

Dass die Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) von Notstand spricht, sei "lächerlich": "Die Situation war monatelang vorhersehbar, sie hätte aufgefangen werden können", so Patzelt. Zwar sei der Andrang nach Europa tatsächlich groß, "aber das ist eine Managementaufgabe, die zu lösen ist, wenn man will".

Lagerleitung lehnt Gratis-Ärzte ab

Unerträglich sei, dass es zahlreiche Hilfsangebote von Privaten gebe, die abgewehrt würden. 20 Medizin-NGOs, darunter Ärzte ohne Grenzen, hätten sich bereiterklärt, gratis ärztliche Hilfe im Lager anzubieten – doch die Lagerleitung habe dies abgelehnt. "Sie haben gesagt, dafür ist ORS (privates Unternehmen, das vom Ministerium für den Lagerbetrieb engagiert wurde, Anm.) zuständig", sagte Daniela Pichler, Leiterin der AI-Untersuchungsmission in Traiskirchen. Beim Gespräch mit Beamten des Innenministeriums hätten diese den Amnesty-Vertretern "zumindest zugesagt, dass sie das Angebot der NGOs noch einmal überdenken wollen", so Pichler.

"Wenn Private anrufen und sagen, sie haben ein leerstehendes Haus anzubieten und man sagt ihnen: 'Ja wollen Sie sich das denn wirklich antun?', anstatt sich zu bedanken, dann ist das Barbarei", sagte Patzelt. Eine Traiskirchnerin, die Flüchtlingen ein Zelt durchs Zaungitter reichen wollte, damit sie nicht unter freiem Himmle schlafen müssten, sei vom Sicherheitspersonal des Lagers weggeschickt und sogar mit Anzeige bedroht worden.

Nur drei Psychologen

Für mehrere tausend Menschen stünden nur drei Psychologen zur Verfügung – viel zu wenige, "wenn man bedenkt, was diese Menschen durchgemacht haben – viele leben in ständiger Ungewissheit, ob ihre Angehörigen noch am Leben sind", sagte Siroos Mirzaei, die für Amnesty die medizinische Versorgung in Traiskirchen untersucht hat.

Derzeit lebten 2.442 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahre in der Betreuungsstelle, die überwiegende Mehrheit von ihnen ist ohne Eltern oder sonstige Angehörige geflüchtet. Besonders belastend sei für sie, dass ihnen niemand erkläre, wie es nun weitergehe, was sie zu erwarten hätten.

Alle unbegleiteten Jugendlichen würden zum Röntgen geschickt, um ihr Alter und damit ihren Schutzstandard festzustellen – für Minderjährige gelten höhere Standards. Die Röntgenmethode sei aber unzuverlässig, "Deutschland wendet sie aus diesem Grund nicht an", kritisierte der Nuklearmediziner. Und nicht nur das: "Die Methode kostet auch viel Geld – mehrere 100.000 Euro im Jahr."

"So ein gutes Essen gab es hier noch nie"

Ob die Amnesty-Mission ein ungeschöntes Bild bekommen hat, sei zumindest aufgrund der Aussagen mancher Asylwerber in Zweifel zu ziehen, sagt Pichler: "Bewohner des Zentrums haben uns gesagt, dass die offiziellen Speisepläne, die uns ausgehändigt wurden, nicht stimmen", so Pichler. "Einer hat gesagt: 'So ein gutes Essen wie heute gab es hier noch nie, bitte kommt öfter'." Andere Bewohner hätten berichtet, dass die WCs sonst in einem schlechteren Zustand seien als am Tag des Amnesty-Besuchs.

Trotzdem, so Mirzaei, habe man die Sanitäranlagen "in sehr schlechtem hygienischen Zustand" vorgefunden. Besonders problematisch sei, dass es keine Möglichkeit für Frauen gebe, getrennt von Männern zu duschen.
Kritik an Landesregierungen

Patzelt übt heftige Kritik an den Landesregierungen. "Der niederösterreichische Landeshauptmann rechnet Asylwerber in Traiskirchen zu seiner Quote dazu, obwohl er nichts für sie tut und sie in seinem Land dahinvegetieren", kritisierte Patzelt. "Wer sich mit Obdachlosen schmückt, trägt auch die Verantwortung für sie."

Warum die Versorgung der Bosnienflüchtlinge besser funktioniert habe als die heutige Flüchtlingsbetreuung? "Das waren Flüchtlinge aus einer Gegend, wo Herr und Frau Österreicher Jahr für Jahr gerne auf Urlaub fahren – wenn der Hafen in Dubrovnik, wo man Kaffee getrunken hat, beschossen wird, dann berührt uns das. Wenn die da unten aus dem Nahen Osten zu uns wollen, kennen wir kein Erbarmen – zumindest glaubt die Politik, dass es so ist."

Follow-up-Prüfung angekündigt

Das Inneministerium reagierte am Freitag per Aussendung auf die Amnesty-Vorwürfe. Die Situation sei durch die "sprunghaft angestiegene Zahl an Asylsuchenden" entstanden, heißt es darin. Erneut verweist das Ministerium auf die Verweigerungshaltung der Länder und Gemeinden. Das geplante Durchgriffsrecht des Bundes bei der Schaffung von Quartieren werde die Situation verbessern.

Amnesty kündigte am Freitag an, eine Follow-up-Prüfung zu planen, sollte sich die Situation in Traiskirchen nicht merklich bessern. (Maria Sterkl, 14.8.2015)

Der Beitrag im Standard - http://derstandard.at/2000020722311/A...en?ref=rec